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«Die neue Psychiatrie muss eine psychosozial ausgerichtete Psychiatrie sein»

Bruno Facci, Vorstandsmitglied von Stand by You Schweiz und Präsident von Stand by You Ostschweiz, erzählt in einem Interview, warum er sich zusammen mit Pflegefachleuten für eine Charta «Psychiatrie ohne Zwang» einsetzt. Und er spricht dabei von der Zerrissenheit, die Angehörige wie Fachleute kennen, wenn es aus der Not heraus dennoch zu Zwangsmassnahmen kommen muss.

Du engagierst Dich persönlich für das Thema „Menschlichere Psychiatrie“. Warum?

Eine menschlichere Psychiatrie ist in erster Linie in den stationären  psychiatrischen Einrichtungen von Nöten. Dort bestehen immer noch hierarchische Strukturen mit paternalistischem Handeln. Diese sind nicht vereinbar mit einer modernen Patienten- und recoveryorientierten Behandlung auf Augenhöhe. Sie widersprechen auch grundlegenden Patientenrechten wie dem Selbstbestimmungsrecht und dem Recht auf angemessene Aufklärung. Voraussetzung dafür ist, dass alle an der Behandlung Beteiligten gemeinsam geeignete Behandlungsmassnahmen beraten, entwickeln, und umsetzen. Dabei sind – wenn immer möglich – die Angehörigen in diesen Prozess einzubeziehen.

Du hast an einer Charta für eine „Psychiatrie ohne Zwang“ mitgewirkt. Was sind darin die Hauptforderungen?

Die Hauptforderungen lassen sich auf  einen kurzen Nenner bringen: Das bestehende Wissen und die damit verbundenen praktischen Erfahrungen für eine Psychiatrie ohne Zwang sind vorhanden.  Dieses auf allen Ebenen (Gesellschaft, Politik, Fachwelt, Betroffene und Angehörige) umzusetzen ist  eine grosse Herausforderung und muss verpflichtend sein für alle Verantwortungsträger auf allen Ebenen. Die Charta zeigt die Haltung der Pflege als Berufsgruppe zum Thema auf. Damit verpflichtet sie sich, in allen Institutionen und Funktionen sich für eine Psychiatrie ohne Zwang einzusetzen. In der Charta sind zwölf Thesen beschrieben, mit denen dieses Ziel erreicht werden kann. Zu jeder These werden exemplarisch jeweils drei mögliche Massnahmen zur Reduktion von Zwang aufgelistet. Darüber hinaus gibt es noch viele weitere Mittel und Wege hin zu einer Psychiatrie ohne Zwang. Es herrscht also kein Mangel an entsprechendem Wissen und Können, sondern ein Mangel an praktischer Umsetzung.

Du bist nicht nur Angehöriger, sondern warst auch jahrelang Pflegeleiter in der Psychiatrie Wil. Hat sich die Situation der Betroffenen und Angehörigen in den letzten 40 Jahren nicht verbessert?

In den psychiatrischen Institutionen hat sich viel verbessert. So haben sich die einstigen Anstalten hin zu modernen Kliniken mit entsprechender Infrastruktur gewandelt. Auch in Bezug auf die Qualität und Anzahl der Mitarbeitenden und deren Ausbildung sind grosse Fortschritte gemacht worden. Ebenso sind die Qualität und Anzahl der Therapiemöglichkeiten ist nicht mehr vergleichbar mit vor 40 Jahren.

Zudem hat sich für Angehörige vieles zum Besseren gewendet. Wurden wir vor vierzig Jahren in der Regel eher als notwendiges Übel wahrgenommen, wird heute unsere Rolle und unser Wirken stärker wahrgenommen und geschätzt. Wenn auch noch nicht in ausreichendem Mass. Erfreulich ist, dass praktisch alle psychiatrischen Kliniken über eigene Angehörigenberatungsstellen verfügen, die sich den Anliegen der Angehörigen annehmen. Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der direkte Einbezug der Angehörigen in Planung, Durchführung, Auswertung und Abschluss der Behandlung als Partner auf Augenhöhe weitgehend fehlt.

Warum fällt es so schwer, die Psychiatrie menschlicher und wirksamer zu gestalten?

 Das hängt direkt zusammen mit der bestehenden Stigmatisierung und Stereotypisierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Diese sind darauf zurückzuführen, dass die Psychiatrie psychische Störungen mit einer medizinischen Diagnose versieht. Dabei geht unter, dass solche Krisen ihren Ursprung in negativen Erfahrungen wie Unzufriedenheit, Verlust, Druck, Einsamkeit, Ohnmacht und Traumata haben. Diagnosen machen aus verstörten Menschen Kranke, die medizinisch behandelt werden müssen, wobei  die menschlichen Aspekte kaum je berücksichtigt werden. Zudem verändert eine erteilte Diagnose das Verhalten der Umgebung der Betroffenen. Sie werden damit eingeteilt in eine andere, gestörte und damit minderwertige Kategorie von Menschen. Nicht zuletzt deshalb schweigen Betroffene lieber über ihre Erkrankung, weil sie sich vor dem Verlust von Zugehörigkeit fürchten.

 Was sind die Folgen?

 Auf diese stigmatisierenden Einstellungen gegen psychische Störungen folgen zwangsläufig Diskriminierungen. Bei Letzteren handelt es sich um Verhaltensweisen, die ganz konkret zu Benachteiligungen führen. Im Fall der psychischen Störungen bestehen die Benachteiligungen zum Beispiel darin, dass bestehendes Wissen und erprobte Praxis über Verhinderung von Zwang nicht in die Tat umgesetzt werden. Das ist besonders gravierend, weil Zwangsmassnahmen nicht nur unmenschlich und enorm belastend, sondern auch traumatisierend, gesundheitsschädigend und ein tiefer Einschnitt in die persönliche Integrität sind. Damit wird eine an sich gut gemeinte Zwangsbehandlung in ihr Gegenteil verkehrt. Menschen mit psychischen Störungen werden gegenüber Menschen mit körperlichen Störungen benachteiligt. Für Letztere hält die Einführung von neuen Errungenschaften in der Regel Schritt mit den neuesten Entwicklungen. Ganz im Gegensatz zur Psychiatrie, wo vielversprechende Behandlungsmodelle mit sozialpsychiatrischer bzw. psychosozialer Ausrichtung im Schatten der biologisch orientierten Psychiatrie ein Nischendasein fristen.

 Wo beginnt eine Psychiatrie ohne Zwang?

Eine menschlichere und wirksamere Psychiatrie ohne Zwang beginnt dort, wo Stigmatisierung und Diskriminierung von psychischen Störungen wirkungsvoll entgegengetreten wird. Das ist ein gesamtgesellschaftliches und somit auch politisches Problem. Da eine menschlichere und wirksamere Psychiatrie unmittelbar weder gesellschaftlichen noch finanziellen Gewinn verspricht, sind kurzfristig leider kaum entsprechende Verbesserungen zu erwarten. Gerade deshalb sind die Verfasserinnen und Verfasser angetreten, mit ihrer Charta die Diskussion über eine menschlichere Psychiatrie ohne Zwang in die Öffentlichkeit zu tragen. Dabei zählen sie darauf, dass die Fachorganisationen und die Politik diese aufnehmen und gemeinsam nicht nur Lösungen finden, sondern diese auch in die Tat umsetzen.

Ist das Ziel einer Psychiatrie ohne Zwang nicht weltfremd?

Eine Psychiatrie ohne Zwang ist nicht weltfremd, sondern eine Utopie. Und Utopien schaffen Raum für freies Denken, um Alternativen zu ersinnen und zu erproben. Letztere gibt es wie schon erwähnt zuhauf. Jetzt geht es darum anzupacken und diese umzusetzen. Im Umsetzungsprozess werden sich weitere neue Ideen entwickeln, wie eine Psychiatrie ohne Zwang zu erreichen ist. Deshalb ist nicht das Ziel einer Psychiatrie ohne Zwang weltfremd, sondern die Tatsache, dass wider besseres Wissen und erprobter Praxis die Massnahmen zur Verhinderung von Zwang nicht vollumfänglich umgesetzt werden.

Unter Angehörigen herrscht dazu keine einheitliche Meinung. Klar ist, dass wir alle eine wirksamere und auch menschlichere psychiatrisch Versorgung fordern. Ihr Argument: In manchen Notlagen, wenn ein Lieber, eine Liebe ins Chaos und in die Orientierungslosigkeit fällt und sich bedroht fühlt, sind aber Massnahmen gegen seinen oder ihren Willen auch ein Akt, den Betroffenen zu schützen. Verstehst Du das?

Das verstehe ich sehr gut. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich mich bei einem manischen Schub meines Bruders zwangsläufig bei der Durchführung einer Zwangsmassnahme beteiligten musste. Dabei war ich genauso innerlich zerrissen, wie es wahrscheinlich alle Angehörigen, aber auch die Ausführenden von Zwangsmassnahmen in dieser Situation sind. Schliesslich lassen wir Menschen uns zurecht leiten vom ethisch-medizinischen Grundsatz «In erster Linie nicht schaden». Dennoch können  in ausserordentlichen Situationen und Notlagen Massnahmen gegen den Willen der Betroffenen angezeigt sein. Das entspricht der allgemein Ansicht, dass Ausnahmen die Regeln bestätigen. Weil – wie schon mehrfach erwähnt – in unserer psychiatrischen Versorgung nicht alle bekannten Massnahmen zur Verhinderung von Zwang umgesetzt werden, gehören Zwangsmassnahmen nicht zu den Ausnahmen, sondern sind viel eher  als regelhaft zu beurteilen.

Als Stand by You Schweiz wollen wir dazu beitragen, die psychiatrische Versorgung wirksamer und menschlicher zu gestalten. Wir setzen uns auch dafür ein, dass mehr psychosoziale Angebote und eine erbringende Psychiatrie zur Anwendung kommt. Wie siehst Du das als Pflegefachmann: Sind wir naiv?

Ganz im Gegenteil. Die neue Psychiatrie muss eine psychosozial ausgerichtete Psychiatrie sein, bei der die psychopharmakologische Behandlung ihre Vormachtstellung aufgeben muss. Dadurch wird das ärztliche Primat bei der Behandlung ersetzt durch eine tatsächlich gelebte interdisziplinäre Zusammenarbeit. Die grossen zentralen Kliniken werden verkleinert und  offen geführt. An deren Stelle treten kleinere gemeindenahe Angebote, aufsuchende Behandlung und Netzwerkarbeit (open dialogue). Eine wichtige Rolle spielen auch die Recovery-Orientierung und der Einsatz von Peers in allen psychiatrischen Einrichtungen. Und last but not least: Der aktive Einbezug von Betroffenen und Angehörigen sind in einer wirksamen Psychiatrie eine Selbstverständlichkeit.

 

Charta für eine Psychiatrie ohne Zwang

Zwölf Thesen mit Umsetzungsbeispielen – hier finden Sie das ganze Dokument der Vereinigung Pflegekader Schweiz und des Schweizerischen Vereins für Pflegewissenschaft.