Mit viel Offenheit reflektiert Kaivalya Kashyap seinen eigenen Umgang mit dem Anderssein seiner verstorbenen Schwester. Er erzählt vom Wandel seiner Sichtweise, vom Wunsch, seine Schwester zu verändern, hin zu einem tiefen Verständnis und der vollständigen Akzeptanz ihrer Persönlichkeit. Seine Geschichte ist ein Plädoyer für mehr Inklusion und ein soziales System, das jedem Menschen einen Platz bietet, unabhängig davon, wie anders er sein mag.
Meine Schwester ist im April 2024 im Alter von 61 Jahren gestorben. Für mich ist Spiritualität sehr wichtig, sie gibt mir Kraft zum Leben. Vor diesem Hintergrund verstehe ich den Tod meiner Schwester nicht als etwas Endgültiges, sondern als etwas ganz Natürliches. Sie ist einfach von einem Ort zum anderen gegangen. Und doch vermisse ich sie. Als Kinder waren wir uns sehr nahe. Sie war nur ein Jahr älter als ich. Unser Vater kommt aus Sri Lanka, unsere Mutter aus München. Wir sind beide in England geboren und dann in Uganda aufgewachsen. Ich erinnere mich an unsere Kindheit als eine sehr intensive Zeit. Da wir kaum Spielzeug hatten, spielten wir vor allem miteinander. Wir waren fast rund um die Uhr zusammen. Meine Schwester war schon immer eine sehr, sehr lebendige Person, interessiert und unglaublich wissend. Sie konnte sich an Dinge erinnern, die ich schon lange ausgeblendet hatte. Ich habe sie auch immer dafür bewundert, wie schnell sie Sprachen lernte.
Ihre Schwierigkeiten – oder nennen wir es Herausforderungen – begannen in ihrer späten Jugend. So wurde es für sie immer schwieriger, Termine einzuhalten. Familiäre Anlässe wie Weihnachtsessen oder Geburtstagsfeiern fielen ihr schwer. Auch etwas in einer bestimmten Zeit zu erledigen, bereitete ihr zunehmend Mühe. Sie besuchte die Kanti und wollte Kleinkindererzieherin werden. Das hat sie auch gelernt. Aber es wurde immer schwieriger für sie, einen Job zu behalten, Beziehungen und Freundschaften aufrechtzuerhalten. Es gab auch einige persönliche Dramen. Sie schenkte ihren Partnern ihre ganze Liebe und Aufmerksamkeit. Sie wollte eine Person zwar nicht in Besitz nehmen, aber fokussierte sich vollumfänglich auf sie. Das wurde diesen dann zu viel und zu erdrückend.
« Sie hatte das Recht, anders behandelt zu werden, wie jeder andere auch. »
Meine Schwester hatte fast 30 Jahre lang keine feste Arbeit. Sie hatte kaum Freunde. Dementsprechend verbrachte sie viel Zeit allein. Sie hat sich immer gegen eine Behandlung oder Diagnose gewehrt und wollte auch keine Medikamente einnehmen. Sie hatte Angst, in eine Klinik zu kommen und als schizophren eingestuft zu werden. Aber mit der Zeit entwickelte sie gewisse Vorstellungen. So hatte sie einige Male Probleme mit der Exekutive, also mit der Polizei. Und einmal kam es zu einer Situation, in der sie zwangsweise in eine Klinik eingewiesen wurde. Dort wurde bei ihr eine schizophrene Erkrankung diagnostiziert. Aber sie hat nie jemanden gefährdet oder ist für jemanden gefährlich geworden. Sie konnte nur sehr laut werden.
In der Familie gab es schon eine gewisse Ausgrenzung meiner Schwester. Das war nicht gut. Sie hatte das Recht, anders behandelt zu werden, wie jeder andere auch. Zu oft wurden Entscheidungen getroffen, ohne sie zu fragen. Nicht über sie, aber über andere Dinge. Zum Beispiel erfuhr sie als Letzte, dass unsere Eltern nach Sri Lanka auswandern würden. Es wäre wichtig gewesen, dass alle Familienmitglieder gleich behandelt worden wären. Für mich ist Gleichberechtigung sehr wichtig. Ich weiss nicht, mit welcher Bestimmung jemand auf die Welt kommt. Vielleicht hat meine Schwester aber genau das Leben geführt, das sie leben sollte. So hart es klingen mag, vielleicht wollte sie so ein ausgeschlossenes Leben führen.
« Am Ende habe ich sie in ihrer Rolle voll akzeptiert. Aber sie passte nicht in unser Betriebssystem. »
Aber ich hatte schon das Gefühl, dass es ihr immer schwerer fiel, sich als Teil einer Gesellschaft zu verstehen. Irgendwann haben wir uns ein bisschen auseinandergelebt. Ich ging meinen Weg und sie ihren. Vor etwa 15 Jahren habe ich gemerkt, dass ich sie einfach lieben kann. Was sie tat, wie sie es tat, darüber hatte ich kein Recht zu urteilen. Es war ihr Weg. Ich konnte nicht sagen, dass mein Weg der richtige war, nur weil er nach aussen vielleicht erfolgreicher und harmonischer aussah. Welches Recht habe ich, jemanden als krank zu bezeichnen? Es gab Symptome, die ich wahrgenommen habe. Meine Schwester war definitiv anders als die meisten Menschen. Aber ich kenne auch andere Menschen, die als Sonderlinge oder schräge Vögel gelten. Aus meiner heutigen Sicht war es ihr gutes Recht, ihr Leben so zu leben wie sie es wollte, mit allen Konsequenzen. Doch auch ich musste zuerst zu dieser Einsicht gelangen. Für meine persönliche Verarbeitung ihres Todes war es wichtig, dass ich mir selbst verzeihen konnte. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen, sonst würde ich heute sicher mehr Zeit mit ihr als Mensch verbringen. Meine Tochter hat bei der Beerdigung gesagt, liebe Tante, es tut mir so leid, dass ich dir nie meine Liebe zeigen konnte. Aber letztlich kann jeder immer nur das Beste zu einem bestimmten Zeitpunkt geben.
Erst im Verlaufe der Jahre bin ich zur Erkenntnis gelangt, dass man Menschen so lassen sollte, wie sie sind. Ich habe meine Schwester schliesslich nicht einfach toleriert. Toleriert ist für mich zu wenig. Am Ende habe ich sie in ihrer Rolle voll akzeptiert. Aber sie passte nicht in unser Betriebssystem. Unsere Gesellschaft ist kein soziales Betriebssystem. Das muss sich ändern. Ich möchte mich dafür einsetzen, dass wir ein Betriebssystem entwickeln, in dem alle Menschen ihren Platz haben. Es braucht mehr Aufklärungsarbeit, um Menschen wie meine Schwester besser begleiten zu können. Wir haben das alle nicht gelernt. Es sollte nicht sein, dass gewisse Menschen als krank abgestempelt werden, um danach abgeschoben zu werden. Sondern dass man versucht, in dieser einen Welt eine Familie zu sein, in der jeder Mensch seinen Platz findet.
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