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Rafael Traber, angehöriger Verwandter und Psychiater

«Die Erfahrung als Angehöriger hat meine Arbeit als Ärztlicher Direktor stark geprägt»

Als praktizierender Psychiater wurde Rafael Traber beigezogen, als ein Familienangehöriger Mitte zwanzig psychisch erkrankte. Er erlebte in der Folge, wie schwierig die Zusammenarbeit der Angehörigen mit den Behandlern aufgrund der gesetzlichen Grundlagen und des Schutzes der Autonomie der Patientinnen und Patienten sein kann. Auch sah er bei den BehandlerInnen teilweise eine ideologisch gefärbte Banalisierung der Schwere der Krankheit und demzufolge eine mangelhafte Behandlung. Er hat daraus für sich als Psychiater in leitender Funktion viel gelernt.
Maske

Ich kannte die betroffene Person in seiner Jugend als begabten, liebenswerten jungen Mann. Doch mit Mitte zwanzig begann er an einer psychischen Krankheit zu leiden, die später als paranoide Schizophrenie diagnostiziert wurde. Bei Krankheitsbeginn ängstigte er die Familie, indem er verschwand und Reisen auf anderen Kontinenten machte, teilweise ohne jemandem Bescheid zu geben.  Die Eltern mussten häufig intervenieren und beispielsweise für seine Rückkehr besorgt sein.
In der Folge musste er immer wieder gegen seinen Willen in psychiatrische Kliniken eingewiesen werden. Er zerstörte durch seine paranoide, psychotische Symptomatik teilweise seine Wohnung, warf Möbel und sonstige Gegenstände aus dem Fenster. In dieser Phase konsumierte er auch Cannabis, was seinen Zustand noch zusätzlich verschlechtert haben dürfte. Er hatte dann auch immer wieder Probleme mit den Nachbarn und der Polizei, bis er dann eben eingewiesen wurde.

« Doch die behandelnden Kollegen sahen die Erkrankung meines Verwandten etwas anders, waren optimistischer. »

Als bereits praktizierender Psychiater und Angehöriger wurde ich von der Familie um Unterstützung gebeten. Für mich stand damals relativ schnell fest, dass der Familienangehörige unter einer sehr schweren psychischen Erkrankung litt, die einer stabilen medikamentösen Behandlung, am besten in Depotform, sowie einer betreuten Wohnsituation bedurfte. Auch hätte für mich ein Beistand Sinn gemacht, nicht zuletzt um die Eltern zu entlasten. Dieser hätte sich meiner Meinung nach auch um eine IV-Anmeldung bemühen sollen.
Doch die behandelnden Kollegen sahen das anders, waren optimistischer. Das werde schon wieder und der Patient könne sicher schon bald wieder arbeiten, waren sie überzeugt. Darauf wurde er meiner Meinung nach zu wenig intensiv behandelt und betreut und nahm die Medikation nicht – wie dringend nötig – regelmässig ein.  Natürlich hofften wir, dass die Kollegen recht hatten, doch es folgten immer wieder wie von mir erwartet schwere Rückfälle und Hospitalisationen gegen den Willen des Patienten.
Über die Jahre wechselten sich Phasen der Stabilität mit erneuten Krisen ab. Leider beging er dann in der Psychose eine zum Glück nicht schwere gewalttätige Handlung, was für mich nicht überraschend war. Es folgte eine durch die Justiz verordnete forensische Begutachtung und er wurde in der Folge länger forensisch stationär und auch mit einer Depotmedikation behandelt. Wie ich indirekt hörte, war der Verlauf positiv; doch forensische Massnahmen sind zeitlich begrenzt.
Ich erlebte vor allem in den ersten Jahren der Krankheit, wie schwer es Angehörigen gemacht wird, in den psychiatrischen Behandlungsprozess einbezogen zu werden. Einmal bat mich die Familie um Hilfe, weil es ihm sehr schlecht ging, doch niemand ihn einweisen wollte respektive er immer wieder sehr rasch entlassen wurde. Ich nutzte meine Kontakte, organisierte einen Behandlungsplatz auf einer Akutstation – nur um am nächsten Tag zu erfahren, dass er bereits nach einer Nacht entlassen worden war. Ich konnte es kaum glauben. Niemand hatte mit mir oder der Familie gesprochen. Doch der Patient konnte seine Symptome gut vor den Behandlern verbergen und die Klinik hat die Kriterien für eine Aufrechterhaltung der fürsorgerischen Unterbringung nicht mehr als erfüllt angesehen. Es ist vom Gesetz her richtigerweise auch nur bei sehr spezifischen Gründen möglich, einen Patienten für längere Zeit gegen seinen Willen zu behandeln und die Patienten haben die Möglichkeit gegen einen Fürsorgerischen Freiheitsentzug zu rekurrieren. Die gesetzlichen Grundlagen sind so, dass die Autonomie des Patienten als sehr wichtig eingestuft wird. Trotzdem muss die Autonomie des Patienten immer gegen die Fürsorgepflicht für den Patienten abgewogen werden.
Es sollte aber nicht so sein, dass ein Patient erst nach dem Begehen eines Deliktes im Rahmen der forensischen Massnahmen eine adäquate Behandlung bekommt.

« Ich ermutige die Angehörigen unserer Patienten, sich zu melden. Zuhören dürfen wir von Seite der Klinik immer. »

Die beschriebene Erfahrung als Angehöriger hat meine heutige Arbeit als Ärztlicher Direktor einer psychiatrischen Klinik sicher stark geprägt. Ich ermutige die Angehörigen unserer Patienten, sich zu melden. Zuhören dürfen wir von Seite der Klinik immer, auch wenn wir von Gesetz her ohne Schweigepflichtentbindung keine Auskünfte geben können. Angehörige verfügen oft über Informationen aus dem Alltag des Patienten, welche wir vor allem am Anfang der Behandlung in der Klinik oder im ambulanten Bereich nicht haben. Sie erkennen Rückfälle oft als Erste. Doch immer wieder kommt es vor, dass die Sorgen der Angehörigen als übertrieben oder gar manipulativ abgetan werden. Natürlich reagieren Familien manchmal emotional, doch auch das ist eine Realität, die wir in der Psychiatrie richtig kontextualisieren müssen.

Rückblickend frage ich mich, ob ich die Familie als Spezialist mehr hätte unterstützen müssen. Doch ich war ja nicht sein behandelnder Psychiater, und er wollte meine Hilfe nicht. Zudem belasteten meine Interventionen die Beziehung. So war ich derjenige, der gegen seinen Willen einen Klinikplatz und die Fürsorgerische Unterbringung organisierte. Die Grenze zwischen Helfen und Entfremden ist schmal. Am Ende blieb mir nur, als Psychiater aus dieser Erfahrung als Angehöriger zu lernen und dieses Wissen auch in die Behandlungskonzepte der Klinik einfliessen zu lassen.

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